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Besorgte Leserinnen und Leser marschieren durch Utrecht: „Niemand darf vorschreiben, was andere lesen“

Mann liest ein Buch auf einer Bank, Symbolfoto zum Lesermarsch in Utrecht.

Von Der Report der Magd bis Het lammetje dat een varken is: Hunderte Menschen trugen am Samstag bei einem „Lesermarsch“ in Utrecht ihre Lieblingsbücher durch die Innenstadt – als Symbol für Freiheit und als Protest gegen Zensur.

Keine Transparente, keine Schilder – stattdessen erhoben die Demonstrierenden ihre Bücher in die Luft. Auffällig häufig waren Dystopien zu sehen, etwa Margaret Atwoods Der Report der Magd, und der neue Roman der Niederländerin Nelleke Noordervliet. Viele hatten warnende Sachbücher dabei – Stefan Zweigs Die Welt von Gestern, Thomas Manns Achtung, Europa! – sowie Timothy Snyders Über Tyrannei und Über Freiheit. Und auch Kinderliteratur fehlte nicht: etwa Pim Lammers’ Het lammetje dat een varken is (NL-Titel).

Aufgerufen hatten PEN Niederlande – Teil der internationalen Schriftstellervereinigung – und das Utrechter Literaturfestival ILFU. Sie warnten, dass das freie Wort „unter Beschuss“ stehe, getrieben von „undemokratischen Bewegungen“. Der Marsch eröffnete zugleich die „Woche des verbotenen Buches“, eine Aktion niederländischer Bibliotheken. Laut den Veranstaltern beteiligten sich mehr als tausend Menschen an dem friedlichen Umzug.

Freiheit nicht mehr selbstverständlich

Dass Bücherverbote keine ferne Realität sind, wurde in vielen Gesprächen deutlich. Die Bibliothekarin Angelique Seuren hielt Die Farbe Lila von Alice Walker hoch, ein Buch, das in den USA regelmäßig auf Indexlisten steht – wegen expliziter Szenen und Gewalt. „Ich bin in den 60er- und 70er-Jahren groß geworden, wir hatten damals viel Freiheit, uns selbst zu entdecken. Das möchte ich auch der jungen Generation gönnen“, sagte sie. Doch in ihrem Arbeitsalltag erlebt sie, dass diese Freiheit schwindet: „Unter jüngeren Kolleginnen und Kollegen gibt es mehr Diskussionen, etwa über queere Figuren. Da herrscht Vorsicht, manchmal fast Angst.“

Auch Grundschullehrerin Nicolette van der Linden sieht das kritisch: „Niemand darf bestimmen, was andere lesen.“ Sie verweist auf die immer wiederkehrenden Proteste konservativer Gruppen gegen die landesweite Aufklärungswoche „Week van de Lentekriebels“. „Bücher zur Sexualerziehung werden aus Schulen verbannt, mit dem Argument, sie seien pornografisch. Das stimmt nicht – und es ist gefährlich, wenn Erwachsene Kindern solche Themen vorenthalten. Damit hält man sie dumm.“

Bedrohungen gegen Autorinnen und Autoren

Die Angriffe bleiben nicht bei Debatten: 2023 wurde Kinderbuchautor Pim Lammers massiv bedroht. Laut einer Ipsos-Studie waren zwei von zehn niederländischen Schriftstellerinnen und Schriftstellern im vergangenen Jahr mit Aggressionen oder Einschüchterungen konfrontiert. „Viele sind nicht mehr unbefangen“, sagt Marcella van der Kruk, Vorstandsmitglied von PEN Niederlande und Verlagsleiterin bei Atlas Contact. „Sie fragen sich: Soll ich das überhaupt schreiben, oder gefährde ich damit meine Sicherheit? Schreiben erfordert heute Mut.“

Auch in Bibliotheken verschärfen sich die Auseinandersetzungen. David Rozema von der niederländischen Bibliotheksorganisation ProBiblio erinnert an den Versuch eines venezianischen Bürgermeisters, ein Kinderbuch mit einer alternativen Familienform entfernen zu lassen. „Das ist nach internationalen Standards unzulässig – Bibliotheken müssen unabhängig bleiben. Aber es bringt Bibliotheken in ein Dilemma, weil sie von der öffentlichen Hand finanziert werden.“

Immer wieder kommt es in den Niederlanden zu Konflikten, wenn öffentliche Bibliotheken auch die Bestände konfessioneller Schulen betreuen. „Wir verstehen, dass streng religiöse Schulen vielleicht keine Harry-Potter-Bände wollen. Aber wenn sie auch harmlose Bücher ablehnen, nur weil darin zwei Väter vorkommen, widerspricht das unserem Auftrag. Und eine Schule auf der Biblebelt, die Das Tagebuch der Anne Frank (Originaltitel: Het Achterhuis) ablehnte, weil Anne darin über sexuelle Fantasien schreibt – ist das nicht ein Tabubruch?“

Queere Themen und politische Macht

In Utrecht ging es auffallend oft um sexuelle Vielfalt. Sasha Jeremiasse hob Love Like Blood von Mark Billingham in die Höhe – die deutsche Ausgabe führt den englischen Titel. „Ich freue mich, dass mein Lieblingsautor eine queere Beziehung thematisiert – ohne Zensur.“

Der Schriftsteller Ronald Giphart trug Versunkenes Rot von Jeroen Brouwers bei sich. „Brouwers schreibt, dass es für eine Demokratie essenziell ist, nicht nur die Mächtigen kritisieren zu können, sondern dass die Mächtigen selbst Bedingungen schaffen müssen, die Kritik ermöglichen. Daran musste ich denken, als ich diese Woche von der Entlassung des US-Talkmasters Jimmy Kimmel las.“

Kultur als erstes Angriffsziel

Besonders erschüttert zeigte sich Gijs Wilbrink, Chefredakteur des ILFU: „Ein ukrainischer Kulturattaché erzählte mir, dass russische Truppen in besetzten Gebieten zuerst ukrainische Bücher einsammeln und verbrennen – und durch russische ersetzen. Das hat mich alarmiert. Kultur ist keine Luxusfrage, keine ,linke Marotte‘. Kulturelle Zensur ist das erste Mittel der Feinde der Freiheit.“

Seit Beginn des russischen Angriffskrieges sei der Umsatz der ukrainischen Buchbranche um 37 Prozent gestiegen, so Wilbrink. „Ein Volk in Not spürt plötzlich, wie wichtig Literatur ist.“

Buchpremiere Berlin

Gestern Abend stellte die Dichterin Nora-Eugenie Gomringer im Berliner Haus für Poesie ihr neues Buch Am Meerschwein übt das Kind den Tod vor. Die ehemalige Literaturwerkstatt war eng mit ihrem kürzlich verstorbenen Vater Eugen Gomringer verbunden – vor allem durch den Gründer und damaligen Leiter Thomas Wohlfahrt. Natürlich wurde an diesem Abend auch daran erinnert.

Am Meerschwein übt das Kind den Tod ist ein Buch mit kurzen Texten über die Mutter von Nora Gomringer. Sie ist auch auf dem Cover zu sehen beim Rasenmähen, während Nora zu ihrem Vater hinaufschaut, der das Foto gemacht hat. Nora bezeichnet das Buch nicht als Nachruf, sondern als Nachrough. Dadurch geht sie auf eine poetisch-verspielte, teils humorvoller Weise mit Erinnerungen, Verlust und Sterblichkeit um.

Zum Schluss möchte ich noch bemerken, dass ich vor zehn Jahren Nora Gomringer in diesem Haus für Poesie (damals Literaturwerkstatt) kennengelernt habe. Zusammen mit der Dichterin Maud Vanhauwaert habe ich in meiner Rolle als Übersetzer auch viele heitere Momente mit den beiden sympathischen Dichterinnen erlebt. Damals nannte Nora mich “Alarm“ und heute auch wieder in der Widmung ihres neuen Buches.

Auf Grund der Lesung kann ich das Buch jetzt schon empfehlen.

Wo ist Cees Nooteboom? – Ein Besuch bei dem großen niederländischen Schriftsteller auf Menorca

Seit Jahren ist es still geworden um Cees Nooteboom. Seit 2021 zeigt er sich nicht mehr in der Öffentlichkeit. Vor kurzem ist in den Niederlanden ein Buch erschienen, in dem der Schriftsteller Thomas Heerma van Voss Gespräche mit jenen Autorinnen und Autoren versammelt, die 1977 ein Selbstporträt an die Literaturzeitschrift De Revisor schickten – auf Bitte der Redaktion. Einer von ihnen war Cees Nooteboom.

Im Juni schrieb Thomas Heerma van Voss auf seiner Facebook-Seite, er habe Cees Nooteboom kürzlich besucht. In dem nun erschienenen Buch wird deutlich, dass es alles andere als einfach war, den 92-jährigen Autor zu erreichen. „Seine Verlage haben meine Interviewanfragen in den vergangenen Jahren stets abgewiesen“, notiert Heerma van Voss. Schließlich gelingt es ihm über das niederländische Literaturmuseum, Kontakt zu Nootebooms Ehefrau aufzunehmen, der 72-jährigen Fotografin Simone Sassen. Sie macht jedoch sofort klar: Ein Telefoninterview sei ausgeschlossen. Wer mit Nooteboom sprechen wolle, müsse nach Menorca reisen. Und genau so kommt es.

Vor Ort jedoch wird der Termin zunächst immer wieder verschoben. Nooteboom leidet unter Atembeschwerden und muss sogar mit dem Krankenwagen ins Hospital gebracht werden, heißt es in dem Buch. Zurück zu Hause schläft er die meiste Zeit. Nach vier Tagen steht Heerma van Voss kurz davor, die Insel unverrichteter Dinge zu verlassen – da kommt endlich der erlösende Anruf: Er darf doch noch vorbeikommen.

Heerma van Voss trifft Nooteboom schließlich im Rollstuhl an. Er wirke, so schreibt er, „gepflegt, mit grauem Haar, glatt rasiert, ein Pullover über dem Hemd“ – genau so, wie er ihn in Erinnerung hatte. Bewegend ist zu lesen, dass Nootebooms Sprache während des Gesprächs knapp, mitunter schwerfällig geworden sei. Ich selbst habe Nooteboom zuletzt 2013 persönlich erlebt: einmal in Geschwend, einmal im Berliner Ensemble. Damals wirkte er lebendiger denn je. Mit seinen achtzig Jahren wirkte er wie der Jüngste auf der Bühne, zusammen mit Adam Thirlwell und Hans Jürgen Balmes. Mit sichtbarer Freude streute er Anekdoten ein, etwa über seine enge Freundschaft mit Mary McCarthy.

Auf Menorca erzählt Nooteboom, wie er vor sechzig Jahren auf die spanische Insel kam. Er betont, wie großartig er das Leben dort findet, und spricht über Vergangenes: „In den siebziger Jahren habe ich viel für Avenue geschrieben. Ein wunderbares Magazin. Ich war begeistert von diesen Leuten. Ich konnte dort machen, was ich wollte – großzügiges Budget, viel Raum für Reisen. Viele dieser Texte haben später in anderer Form auch in meinen Büchern ihren Platz gefunden. Aber das Seltsame war: die intellektuelle Szene in den Niederlanden schaute auf dieses Blatt herab. Man verachtete mich deswegen.“

Diese Bemerkung erinnert mich an die deutsche Literaturszene, wo sich Ähnliches abspielt. Während der Arbeit an einem Essay für eine flämische Zeitschrift über Daniel Kehlmann und sein Werk las ich, dass die Süddeutsche Zeitung laut dem Literaturwissenschaftler Joachim Rickes „eine wichtige Stimme im Anti-Kehlmann-Konzert“ sei. Damals war es einzig die SZ, die schrieb, Ruhm sei in wesentlicher Hinsicht misslungen. Die FAZ und die NZZ hingegen zeigten sich überaus begeistert.

Was erfahren wir noch über Cees Nooteboom im Jahr 2025? Er genießt die Natur um sich herum, findet es absurd, dass der niederländische Verlag De Bezige Bij seine Tagebücher nicht veröffentlichen wollte, und zeigt sich erfreut darüber, dass der Verlag Koppernik dies nun mit großem Interesse und echter Hingabe tut.

Heerma van Voss erhält von Sassen eine kleine Führung. Sie zeigt ihm das Schreibatelier mit dem großen Tisch und den ordentlich aufgereihten Büchern im Regal. „Hier wurde immer sehr intensiv gearbeitet“, sagt sie in Heerma van Voss’ Buch, „jetzt geschieht hier gar nichts mehr.“

Wir erfahren, dass Cees Nooteboom im heutigen Alltag viel Pflege benötigt und Sassen ihre Einkäufe deshalb weit im Voraus plant, damit sie das Haus nicht zu oft verlassen muss. Nooteboom begleitet sie dennoch zum Supermarkt. Dort kauft sie ihm zuerst eine spanische Zeitung, die sie zu ihm bringt, und erledigt dann so schnell wie möglich die Einkäufe. „In zehn Minuten schaffe ich es gerade noch – das geht eben so. Unser Leben hier ist eingeschränkt“, sagt sie zu Heerma van Voss.

In dem Beitrag De prullenmand heeft veel plezier aan mij wird auch Nootebooms literarisches Erbe thematisiert. Mitarbeiter des niederländischen Literaturmuseums waren bereits bei ihm, um darüber zu sprechen. Es geht um ein enormes Archiv, verteilt auf das Haus in Menorca und die Wohnung in Amsterdam. In der niederländischen Hauptstadt befinden sich auch seine Korrespondenzen mit Mary McCarthy. Im Gespräch erklärt Nooteboom, dass es für ihn keinen Grund mehr gebe, nach Amsterdam zurückzukehren. Dort gebe es zu viele Treppen. Sein Arbeitszimmer habe er seit Jahren nicht mehr betreten: „In Amsterdam kann ich – will ich – niemals im Rollstuhl sitzen.“

In dem ausführlichen Bericht ist auch kurz von den deutschen Gesammelten Werken die Rede. Nooteboom blättert darin. Heerma van Voss fragt ihn, ob die frühere Unsicherheit einer Art Stolz gewichen sei. Cees Nooteboom: „Stolz, nein … Das ist nie eine meiner ausgeprägten Eigenschaften geworden. Aber es ist interessant, all das noch einmal zu lesen. Ach ja, denke ich dann, wir haben eine Zeitlang in Paris gelebt, in Berlin, in Los Angeles beim Getty. Dort habe ich mit Allerzielen begonnen – das ist alles tatsächlich geschehen. Faszinierend, im Rückblick zu sehen, womit ich mich in den vergangenen siebzig Jahren beschäftigt habe.“

Thomas Heerma van Voss: De prullenmand heeft veel plezier aan mij. Das Mag Uitgeverij B.V., Amsterdam 2025.

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